Unsere Hightech-Werkstätten für junge Talente, „Macher“ und Unter­nehmen bieten Raum zum gemeinsamen Denken und Ausprobieren.

Prof. Dr. Matthias Willems, Präsident der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM)

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Vorab das verschriftliche aktiv-Interview zum HESSENFORUM am 11. Mai:


„Oft ist der Schlüssel zum Erfolg die Übertragung der in den Unter­nehmen vorhandenen Kompetenzen auf neue Anwendungsgebiete. Die vorhandene technische Expertise ist extrem wichtig, um sich etwa mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz neue Geschäftsfelder zu erschließen. Neuerungen gelingen vor allem dann, wenn man Köpfen aus verschiedenen Disziplinen Raum gibt, gemeinsam kreativ zu werden.“  Prof. Dr. Matthias Willems, Präsident der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM)
 

Die Technische Hochschule Mittelhessen: Talente. Technik. Zukunft

Herr Professor Willems, was ist aus Ihrer Sicht ausschlaggebend für den Unter­nehmenserfolg? Sind es neue Geschäftsmodelle, Technologieführerschaft oder Arbeitsorganisation?

Wir haben hier an der THM sehr gute und enge Kontakte zu den Unter­nehmen in Mittelhessen. Dabei stelle ich immer wieder fest: Innovationskraft und Technologieführerschaft allein reichen nicht aus für unternehmerischen Erfolg. Eine auf die unternehmerischen Ziele ausgerichtete Arbeitsorganisation darf nicht vernachlässigt werden. Insgesamt ist ein intelligenter Mix gefragt und auch die Bereitschaft, Gewohntes immer wieder zu überdenken. Manchmal fehlt es am Mut, Neues früh auszuprobieren, um Produkte schneller zur Marktreife zu führen. In den USA ist man viel experimentierfreudiger. Und dennoch sind viele mittelhessische Unter­nehmen im Hinblick auf die Digitalisierung schon sehr gut unterwegs – von „Predictive Maintenance“ beim Betrieb von Anlagen oder Maschinen bis zur Anwendung von Künstlicher Intelligenz.

Wie sehr denken Sie an der THM in neuen Geschäftsmodellen?

Wir haben unsere Hochschule unter das Motto „Talente. Technik. Zukunft.“ gestellt und richten alle Aktivitäten entsprechend aus. Das ist kein Selbstzweck, sondern wir wollen die Dinge innovativ vorantreiben – egal ob es um Wirtschaftswissenschaften, Bau- oder Umweltingenieurwesen geht, um Maschinenbau oder auch um Gesundheitstechnik. Wir verstehen uns nicht nur als reine Bildungseinrichtung, sondern vielmehr als Technologie- und Wirtschaftsqualifizierer. Wir sind einem permanenten Wandel unterworfen und reagieren darauf mit entsprechenden Angeboten. Neben dem reinen Lehrbetrieb gibt es jede Menge Unterstützung für junge Talente und „Macher“. Neben den Laboren entstehen Lernfabriken oder Makerspaces wie in Gießen und Friedberg. In diesen Hightech-Werkstätten bieten wir Raum zum gemeinsamen Denken und Ausprobieren – und sie stehen übrigens auch Ihren Mitgliedsunternehmen offen! Wir stellen Maschinen und Know-how zur Verfügung, damit Ideen lebendig werden können. Neuerungen gelingen aus meiner Sicht vor allem dann, wenn man Köpfen aus verschiedenen Disziplinen Raum gibt, gemeinsam kreativ zu werden. So haben sich bei uns schon viele tolle studentische Projekte mit interdisziplinärem Ansatz entwickelt.

Können Sie uns ein paar beispielhafte studentische Projekte mit interdisziplinärem Ansatz nennen?

Wir loben zum Beispiel Wettbewerbe aus, etwa den Ideencontest THM IDEECO. Und es finden sich immer Teams, die an nationalen und internationalen Robotik- oder Motorsport-Wettbewerben teilnehmen. Es gibt Stammtische, um Studierende mit Gründenden und Unter­nehmen zusammenzubringen und vieles mehr. Uns geht es darum, dass junge Leute neue Ideen generieren, sie ausprobieren und sich und das Projekt weiterentwickeln. Idealerweise ihr eigenes Start-Up gründen. Auch dabei gibt es von uns jede Menge Unterstützung. Inzwischen haben wir sogar einen eigenen Master-Studiengang „Future Skills und Innovation“ für dual Studierende sowie einen Masterstudiengang „Digital Business“.

Wo sehen Sie aktuell Technologieführerschaft in der hessischen Industrie, insbesondere in der Metall- und Elektroindustrie?

Viele Unter­nehmen, egal ob aus Maschinenbau-, Elektrotechnik-, Vakuumtechnik oder auch Optik-Industrie, sind schon in neuen Geschäftsfeldern unterwegs. Sie sind dabei, ihre Produkte mit den Möglichkeiten von Sensorik, Kameratechnik und Digitalisierung aufzurüsten. Vor allem Nischenspezialisten behaupten so ihre Technologieführerschaft. Und genau dabei unterstützen wir sie, etwa durch Projektarbeiten. Oft ist der Schlüssel zum Erfolg die Übertragung der in den Unter­nehmen vorhandenen Kompetenz auf neue Anwendungsgebiete. Die vorhandene technische Expertise ist extrem wichtig, um sich etwa mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz neue Geschäftsfelder zu erschließen. So unterstützten wir beispielsweise einen Verpackungsspezialisten. Dort muss für einen Kunden aus der Kosmetikindustrie Ware, etwa Lippenstifte, nach einem ganz bestimmten Muster in vorgefertigte Schachteln nach Farben einsortiert werden. Das gelingt inzwischen fehlerfrei dank einer kleinen KI und einem Kamerasystem. Beispiele dieser Art fallen mit zuhauf ein. Allein über das Duale Studium haben wir ein Netzwerk – fast könnte man sagen: Ökosystem – von knapp 1000 Unter­nehmen, die mit ihren Fragestellungen zu uns kommen. Manchmal sind wir dann der Ideengeber, manchmal setzen wir die Ideen aber auch einfach nur um oder entwickeln sie weiter. Bei allem denken wir sehr interdisziplinär. Dafür arbeiten wir auch mit der Justus-Liebig-Universität und der Uniklinik Gießen zusammen. In Kooperation mit Medizinern entwickelt zum Beispiel das Team CardioIQ eine KI, die zur Früherkennung von Krankheiten EKG-Daten auswertet.

Besonders freut uns, wenn sich aus Ideen ganz neue Anwendungen ergeben oder sogar neue Unter­nehmen. So hat gerade ein junges Studentenpaar ein Patent angemeldet und damit ein Unter­nehmen angestoßen. Ihr System BEBBS verhindert Schwelbrände durch das Überhitzen von Streckdosen, die Hauptursache für Hausbrände. Das System erkennt Brände in elektronischen Geräten selbsttätig, meldet die Gefahr via App, akustisch und auch visuell, und löscht den Brand bei ausbleibendem Eingreifen, bevor ein Feuerwehr-Einsatz nötig wird. 2021 gewannen sie damit – neben etlichen anderen Auszeichnungen – den Hessischen Gründerpreis, die höchste Auszeichnung für Gründungswillige in Hessen. Sowas macht mich ungeheuer stolz.

Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht das Thema New Leadership? Welcher Mix der transaktionalen oder transformatorischen Arbeitsorganisation ist am erfolgreichsten?

Wir haben rund 1200 Beschäftigte und sind meines Wissens die einzige Hochschule, die Führungsgrundsätze formuliert und veröffentlicht hat. Sie sind eher transformatorisch als transaktional ausgerichtet. Für uns ist der kooperative Führungsstil wichtig für den Erfolg, denn man braucht ein Team, das nicht in Hierarchien denkt, sondern in Lösungen. Man sollte kontrovers diskutieren, aber am Ende muss jemand auch eine Entscheidung treffen, wenn es keinen Konsens gibt.

Wo liegen die Alleinstellungsmerkmale der THM?

Wir sind mit 18.000 Studierenden die größte hessische Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW). 80, vielleicht sogar 90 Prozent der Akademiker in vielen Industrieunternehmen hier in Mittelhessen kommen von der THM. Allein das verbindet uns extrem mit der Wirtschaft. Wir sind sehr stark im Bereich Forschung mit einer ungeheuren Forschungstiefe. Über die Partnerschaft mit den Universitäten Gießen und Marburg kann man bei uns promovieren – das ist in dieser hochschulübergreifenden Kooperation bisher einzigartig unter hessischen HAW. 2021 haben wir so den ersten Dr.-Ing.-Titel vergeben. Zudem sind wir die einzige HAW mit über 900 Kooperationspartnern in der Wirtschaft – vom Global Player bis zum kleinen, inhabergeführten Betrieb. Und das sind letztlich alles Praxiskontakte. Die beleben wir auch durch unser von Beginn 2008 an starkes Engagement im LOEWE-Programm, der „Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz“. Wir haben besonders von der LOEWE3-Förderlinie profitiert, in der HAW in Kooperation mit kleinen und mittelständischen Unter­nehmen forschen.

Wie hilft Ihnen die im Herbst 2019 eingegangene Kooperations-Partnerschaft mit HESSEN­METALL?

Wir nehmen eine gewisse Hürde wahr, uns einfach anzusprechen, wenn man noch keinen Kontakt zu uns hatte. Die Partnerschaft hat diese Hürde deutlich heruntergesetzt. Leider hat aber die Corona-Pandemie etliche geplante Aktivitäten zum leichteren Kennenlernen, zum Beispiel über eine Art Speed-Dating, sehr eingeschränkt. Und dennoch haben wir schon einiges erreicht. Ziel der Kooperation ist es, Forschung, Entwicklung, Recruiting und Weiterbildung in der Region voranzutreiben. Außerdem soll durch die Zusammenarbeit der Wissenstransfer von der THM in die M+E-Industrie weiter verstärkt werden. Wir haben bereits einen Arbeitskreis für Digitalisierung und Technologietransfer mit zwei Professoren ins Leben gerufen. Prof. Dr. Christian Überall hat die Stiftungsprofessur Industrie 4.0/ Digitalisierung inne und Prof. Dr. Gerrit Sames die Professur für Allgemeine BWL. Sie begleiten den Arbeitskreis fachlich und liefern Input aus ihren Forschungsgebieten, sodass Themen wie IT-Security oder Business Analytics behandelt werden können.

HESSEN­METALL Mittelhessen hat der THM zugesagt, das Ausbildungsprogramm ProTHM zu unterstützen, das möglichen zukünftigen Hochschullehrkräften durch eine engere Anbindung an Unter­nehmen mehr Praxiswissen vermitteln soll. Aktuell ist auch eine Veranstaltung geplant, um Firmen über staatliche Fördermöglichkeiten zu informieren. Alles in allem ist das eine tolle Zusammenarbeit: Wir kommen an Kooperationspartner und erfahren mehr über deren Know-how und die Firmen profitieren von unserem Wissen und finden gute Entwicklungspartner.

Was können wir beim Technologietransfer zwischen Hochschulen und Unter­nehmen in Hessen noch verbessern?

Wie eingangs gesagt: Wir sollten und müssten schneller werden. Die Ideen, die wir haben, sollten wir schleunigst auch ausprobieren und dann schauen, was besser geht. Sonst haben andere schon längst überholt. Es muss nicht alles immer perfekt sein, wenn man es vorstellt. Algorithmen, Rechnerleistungen, Sensorik eröffnen – zu meiner Studienzeit noch ungeahnte – Möglichkeiten für die angewandten Wissenschaften. Interdisziplinär könnte man viele tolle Dinge auf den Weg bringen. Nehmen Sie das Thema Pseudokrupp bei Kindern: Grundlagenforschung gibt es dazu en Masse. Aber mit Kamera und Spitzenoptik, Sensorik und auch KI haben wir eine Art Warnsystem entwickelt, das über Früherkennung von Atemnot und Atemproblemen vor einem bevorstehenden Anfall warnt. Wir brauchen einfach mehr angewandte Wissenschaft in der Grundlagenforschung.

Und daher bin ich auch sehr froh, dass jetzt endlich im April das Bundesforschungsministerium den Startschuss gegeben hat für die Deutsche Agentur für Transfer und Innovation. Ziel der DATI ist es, insbesondere Hochschulen für angewandte Wissenschaften, kleine und mittlere Universitäten sowie mit diesen verbundene regionale Innovationsnetzwerke zu unterstützen. Technologische und soziale Innovationen aller Art sollen so gefördert werden.

Zur Person:
Prof. Dr. Matthias Willems
Matthias Willems wurde 1963 in Bad Kreuznach geboren und studierte Informatik in Heidelberg und Heilbronn sowie bei seinen Studienaufenthalten in den USA und Großbritannien. Er ist Executive MBA der Ecole Nationale des Ponts et Chaussées in Paris und promovierte in Medizinischer Informatik an der Universität Ulm. Ab 1995 hatte er leitende Funktionen bei Oracle Deutschland. 2003 übernahm er eine Professur für Wirtschaftsinformatik an der FH Gießen-Friedberg. Seit 2016 ist der Präsident der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM)

Die Technische Hochschule Mittelhessen (THM)
Die THM ist mit aktuell rund 18.000 Immatrikulierten die größte Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hessen. An den drei Standorten Gießen, Friedberg und Wetzlar sowie an sechs Außenstellen bietet sie fast 80 Studiengänge, die zu den internationalen Abschlüssen Bachelor und Master führen. Zum fachlichen Spektrum gehören klassische Ingenieurdisziplinen, Bio- und Gesundheitswissenschaften, die Informationstechnik und die Wirtschaftswissenschaften. 80 verschiedene Bachelor- und Masterstudiengänge. Die Forschung der THM setzt vielfach auf Kooperation mit Partnern aus der regionalen Wirtschaft und zeichnet sich durch ihre Anwendungsnähe aus.