Hessen braucht ein durchlässiges Bildungssystem für Fachkräfte 4.0

Hochschulzugang für Praktiker: Minister Rhein und VhU-Hauptgeschäftsführer Pollert bewerten bundesweit einmaliges Pilotprojekt als Erfolg

Wiesbaden. Prüfungsfreier Hochschulzugang für gute Absolventen einer dualen Ausbildung und das ohne Wartezeiten – möglich macht es ein bundesweit einmaliges Modellprojekt, dessen erste Evaluierung Wissenschaftsminister Boris Rhein heute vorgestellt hat. Dirk Pollert, Hauptgeschäftsführer der VhU, bewertete das Pilotprojekt als „Meilenstein für unser Bildungssystem“.

Ziel des erleichterten Hochschulzugangs ist eine entspannte Berufswahl in der Jugend, ohne sich frühzeitig für oder gegen eine akademische Karriere entscheiden zu müssen: Junge Menschen mit Interesse an einer dualer Berufsausbildung können sich so die Option einer akademischen Ausbildung offenhalten.

Wissenschaftsminister Rhein: „Die Zahlen sprechen für den Erfolg unseres Modellversuchs. Im Wintersemester 2016/17 sind wir mit rund 85 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gestartet, zu Beginn des laufenden Wintersemesters 2017/2018 haben sich nochmal 150 Studierende eingeschrieben, sodass nun 235 junge Menschen immatrikuliert sind. Diese annähernde Verdopplung zeigt, dass der Modellversuch einen bestehenden Bedarf nach Neuorientierung deckt und von der Zielgruppe gut angenommen wird. Ein erklärtes Ziel der Hessischen Landesregierung ist es, die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu verbessern. Mit dem Modellversuch setzen wir eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag um und folgen den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung. Die sehr gute Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft, den Hochschulen und dem Land Hessen sowie das Interesse der Studierenden machen den Modellversuch so erfolgreich. Wir haben die gemeinsame Überzeugung, dass jungen Menschen, die sich für eine duale Ausbildung entscheiden, auch der spätere Weg zu einem Studium eröffnet sein soll. Ich wünsche den jetzigen Studierenden viel Erfolg und bin überzeugt, dass die Teilnehmerzahlen weiter steigen werden.“

„Wir brauchen ein durchlässiges Bildungssystem, das in beide Richtungen offen ist. Der hessische Modellversuch ist dafür ein wichtiger Meilenstein. Wir als hessische Wirtschaft wünschen uns, dass die Landespolitik diesen Modellversuch bald im hessischen Hochschulgesetz verankert. Nicht zuletzt auch deshalb, um im Standortwettbewerb der besten digitalen Transformation die Nase vorne zu haben“, so Pollert. Die duale Berufsausbildung habe sich in den letzten Jahren zunehmend differenziert und sei immer anspruchsvoller geworden und habe alle technologischen Entwicklungen bis zur Industrie 4.0 integriert. Viele Wege führten in eine solide Karriere. Ebenso, wie ein Abiturient einen Ausbildungsvertrag abschließen oder ein Meister studieren könne, sollte auch Akademikern der Zugang zu der beruflichen Aufstiegsfortbildung eröffnet werden. „Wir beobachten wieder ein wachsendes Interesse für duale Berufsausbildung und ein leichtes Abflachen des Drangs an die Hochschule. Der Engpass im Berufsbildungssystem sind nicht mehr die angebotenen Ausbildungsplätze, sondern die geringe Nachfrage unter Jugendlichen. 2017 wurde der Abwärtstrend bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gebrochen. Hessen hat wieder ein Plus von 1,2 %, bundesweit sind es 0,6 %. Diese Entwicklung müssen wir verstetigen! Der Modellversuch setzt hier genau das richtige Signal: Duale Ausbildung eröffnet alle Chancen. Und sie ist ständiger Kontrolle durch die betriebliche Praxis unterworfen - ein wesentlicher Vorteil gegenüber der akademischen Bildung. Und schließlich führt sie in den genannten Industrien in sehr gut bezahlte Jobs – das Jahresdurchschnittsgehalt z. B. eines Metallers liegt in Hessen bei 55.000 Euro. Ein Niveau von dem viele Akademiker mit Jobs in einigen Bereichen nur träumen können.“

„Chancen durch Bildung: die Frankfurt UAS nimmt ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr, individuelle Bildungswege als Chance zu begreifen und sich einer größtmöglichen Bandbreite an berufsfeldspezifischen Bildungswegen sowie Qualifikations- und Kompetenzprofilen zu öffnen. Hierzu zählt insbesondere auch die Möglichkeit, ohne Abitur oder Fachhochschulreife ein Studium zu absolvieren“, erklärt Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich, Präsident der Frankfurt UAS und Vorsitzender der HAW Hessen. „Bildungsbiografien sind heute sehr divers. Daher müssen auch Bildungszugänge flexibel sein, wenn wir als Gesellschaft die Potenziale unserer Mitglieder möglichst optimal zur Zukunftssicherung heben und nutzen wollen.“

Die Publikation zum Thema: Fachkräfte für die Industrie 4.0 - Für eine Neuorientierung im Bildungssystem

Hintergrund
Die Neuordnung der beruflichen Ausbildung zum 1. August 2018 sieht für die Metallberufe, die Elektroberufe und den Mechatroniker vertiefende Zusatzqualifikationen im Themenfeld Digitalisierung vor. Die duale Berufsausbildung hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend differenziert. Vor allem die dreijährigen und dreieinhalbjährigen industriellen Berufe der Metall- und Elektroindustrie und der chemischen Industrie – das sind die beiden wichtigsten Industrien in Hessen mit rund 350.000 Beschäftigten - sind, ebenso wie die entsprechenden Verwaltungs- und IT-Berufe, immer anspruchsvoller geworden. Alle technologischen Entwicklungen wurden sukzessive in die Berufsbilder integriert. Das schließt aktuell auch die Digitalisierung ein, soweit sie in der betrieblichen Praxis Einzug hält. Denn moderne Ausbildungsberufe orientieren sich an Geschäftsprozessen. Sie sind technologieunabhängig formuliert. Die Praxis im Ausbildungsunternehmen bestimmt wesentliche Teile der dualen Berufsausbildung. Wir haben diesen Prozess in unserer Broschüre „Fachkräfte für die Industrie 4.0“ – Für eine Neuorientierung im Bildungssystem“ am Beispiel eines typischen industriellen Elektroberufs, des Elektronikers für Geräte und Systeme, über fast 70 Jahre nachgezeichnet. Mehr Information unter www.vhu.de.

In dem Modellversuch haben Absolventen mit mittlerem Bildungsabschluss erstmals bereits nach einer dreijährigen anerkannten Berufsausbildung mit mindestens der Abschlussnote 2,5 einen prüfungsfreien Zugang zu allen gestuften Studiengängen an den Hochschulen des Landes. Vorher mussten Interessenten neben einer abgeschlossenen Berufsausbildung mindestens drei Jahre Berufstätigkeit, eine erfolgreich absolvierte Hochschulzugangsprüfung und gegebenenfalls eine einschlägige Weiterbildung nachweisen. Etwa 75 Prozent der Teilnehmer haben sich für ein Studium an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften entschieden, rund 25 Prozent für ein Studium an einer Universität oder der Hochschule Geisenheim. Spitzenreiter in diesem Wintersemester ist die Frankfurt University of Applied Sciences mit 33 neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, gefolgt von der Technischen Hochschule Mittelhessen mit 30 und der Hochschule Fulda mit 21. Die meisten Studierenden entscheiden sich für einen Studiengang, der mit ihrer Berufsausbildung zu tun hat. Das Studienangebot reicht dabei von Betriebswirtschaft über Bildung und Förderung in der Kindheit, Wirtschaftswissenschaften, Maschinenbau und Informatik, Sozialer Arbeit und Pflegemanagement bis hin zu Weinbau und Önologie, Internationaler Weinwirtschaft und Landschaftsarchitektur. Durchschnittlich haben die Studierenden zwischen Abschluss der Ausbildung und Beginn des Studiums 1,5 Jahre Berufserfahrung gesammelt.

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